“Kasimir”-Laudatio für Emmerich Smola
Was haben wir schließlich miteinander zu tun? Sie, Herr Smola: geboren 1922 in Böhmen. Und ich: 43 Jahre später in Bremen. Sie, der weise, alte Dirigent und ich, der - nun ja - junge Journalist. Irgendein Modeautor hat für meine Generation einmal das Wort „Generation Golf” erfunden - demnach wären Sie, Herr Smola - ja was denn? - vielleicht die Generation Käfer! Was also, lieber Emmerich Smola habe ich Ihnen schon zu sagen?
Ihre Laudatio hätten auch andere halten können. Sänger, die durch Sie groß geworden sind: Annelise Rothenberger zum Beispiel. Aber diese Dame hat Sie ja schon oft gelobt - in Filmen und in Interviews. So wie all die anderen Sänger, die in Ihrem Takt groß geworden sind: Der unvergessene Fritz Wunderlich zum Beispiel, der früh am Morgen um 10, einer Unzeit für Tenöre, für Sie „Tosca” gesungen hat. Oder die großartige Erika Köth, oder, oder ,oder…
Was soll ich Ihnen da noch sagen? Vielleicht dieses: Lieber Emmerich Smola, als ich Kind war, gab es eine Zeitschrift, die hieß „Yps” - sie ist heute vom Markt verschwunden. Wie so vieles, was gut war! Im „Yps” gab es immer ein sogenanntes Gimmick, also ein Bastelspiel. Und alle viertel Jahr kam ein „Yps Extra” heraus. Da war das Gimmick besonders groß. Und irgendwann gab es in diesem „Yps Extra” ein Radio, das ganz ohne Batterien funktionierte. Dafür brauchte man eine Antenne, die durch das ganze Zimmer gelegt werden musste. Und es gab keine Lautsprecher, sondern nur einen Plastik-Ohrstecker. Für mich als 10jährigen war das Ideal: Ich habe das „Yps”-Radio unter meinem Bett versteckt, und nachdem meine Eltern mich schlafen gelegt hatten, nahm ich den kleinen Kopfhörer, steckte ihn in mein Ohr und zog die Decke über mein Gesicht. In diesen heimlichen Nächten entdeckte ich eine für mich unbekannte Welt. Und diese Welt wurde immer mit dem gleichen Satz eröffnet: „Sie hörten: das Rundfunkorchester des SWF unter der Leitung von Emmerich Smola.” Lieber Herr Smola, Sie waren der Mann in meinem kleinen Ohr.
Eigentlich war das auch nicht eine Welt, die da aus meinem „Yps”-Radio kam - es waren Welten, die dieser merkwürdige Emmerich Smola da in meinem Kinderohr veranstaltete. Welten der großen Opern, Welten der aufgekratzten Operetten, Welten der Sinfonien und Konzerte! Welten aus Musik!
Und was für eine Musik das war! Immer, wenn im Radio gesagt wurde, dass das Rundfunkorchester des SWF nun unter Leitung von Emmerich Smola dieses oder jenes spielen würde, gab es da einen Klang, der mich nicht schlafen ließ. Einen Klang, der weiter und weiter ging. Einen Klang, der mit mir zu tun hatte. Ein Klang, der mich - das darf man heute in Feuilletons ja gar nicht mehr schreiben - berührt hat. Einen Klang, den ich heute als „echt” beschreiben würde, als wahrhaftig, als authentisch, als: menschlich!Ich habe Ihre Aufnahmen gehört - nicht alle 18.000, die es von Ihnen geben soll. Aber viele. Und der Klang prägte meine Vorstellung von der sogenannten klassischen Musik. Fritz Wunderlich, Erika Köth waren meine Helden, aber auch Zarah Leander, Franz Grothe, Johannes Heesters, Robert Stolz, Ilse Werner, Harald Juhnke oder Astor Piazzolla, die Sie mir vorgestellt haben. Sie waren der erste Cross-Over-Künstler. Was damals aber noch eine ganz andere Bedeutung hatte. Crossover war kein Trick, um das Niveau der Klassik zu senken und der sogenannten populären Kultur etwas Edles zu verleihen. Crossover war eine Selbstverständlichkeit. Alles war Musik. Und alles was Musik war, gehörte zusammen - und konnte sich inspirieren.
Wenn Sie Operette - die heute so oft verschmähte Kunst - dirigiert haben, glaubte man all dem, was da passierte. Wenn Sie Oper dirigiert haben, dann war das Blut, die Leidenschaft und all das echt. Und wenn Sie Sinfonien dirigiert haben, hatten die noch einen Bogen, was zu erzählen - „Klangrede”, lange, bevor das Wort erfunden wurde.
Als ich meinen Eltern und Großeltern von Emmerich Smola erzählt habe, lächelten sie nur. Denn sie wussten natürlich, wer Sie waren. Der Pionier! Der nach dem Krieg Radios und Tonstudios gebastelt hat, um den Klang der Klassik in das Nachkriegsdeutschland zu senden - ungefähr so wie ich als 10jähriger an meinem „Yps”-Radio geschraubt habe, um ihren Klang zu empfangen. Sie waren der Musiker, der Partituren selbst geschrieben hat, weil es an allem, auch an Noten fehlte. Sie haben Hoffnung gesendet. Eine Form der Mitmenschlichkeit. Und ein Stück heile Welt. Sie, lieber Emmerich Smola, waren sich nicht zu schade, neben dem Taktstock auch den Schraubenzieher anzupacken. Sie haben gearbeitet, um Musik möglich zu machen.
Eigentlich habe ich Sie zufällig entdeckt, Herr Smola, als Kind mit meinem neuen Radio. Wie so viele Menschen, die ihre Freunde geworden sind. Und vielleicht stehe ich auch deshalb heute hier und rede. Weil ich einer von den „Leuten” bin, für die Sie Musik gemacht haben. Sie haben Musik nicht für irgendein Bildungsbürgertum gemacht, nicht für die Musikkritiker, nicht für das Feuilleton, nicht für andere Musiker. Wenn Sie Musik gemacht haben, haben Sie für die Leute musiziert.
Als Journalist fällt mir der „Stern”, ein, der in gleicher Zeit unter seinem Chefredakteur Henri Nannen für „Lieschen Müller” geschrieben hat. Heute wird man für so etwas oft verspottet. Klassik ist elitär oder auf Hochglanz poliert. Für Sie ist und war sie ein Massenmedium. Sie haben mir und Deutschland die Musik geschenkt. Und dafür danke ich Ihnen.
Dass ich heute hier stehe, lieber Emmerich Smola, hat eben auch mit Ihnen zu tun. Mein „Yps”-Radio ist nach einigen Jahren kaputt gegangen. Ihre Musik aber hat mich verfolgt. Ich habe Geige gespielt, Schallplatten gekauft - von Ihren Künstlern. Und irgendwann habe ich Musikwissenschaft studiert, bin Journalist geworden, sitze Tag für Tag in Konzerten, unterhalte mich mit Künstlern. Und ich kann Ihnen verraten: es ist selten geworden, dass ich Menschen getroffen habe, die so leidenschaftlich Musik machen wie Sie. Lieber Emmerich Smola, vielleicht kennen Sie mich nicht. Aber Sie haben mein Leben verändert. Keine Angst: ich liebe mein Leben mit dieser, mit Ihrer Musik!
Ich habe eben schon über den Smola-Sound gesprochen. Was ist das für ein Sound? Was ist das für ein Klang? Lieber Emmerich Smola, für mich ist es der Klang eines Alleskönners. Heute spezialisieren sich Musiker. Es gibt Experten, für Alte Musik, Experten für Beethoven und Experten für Wagner. Sie suchen nach Neuem im zweiten Akkord des dritten Taktes - und legen ein ganzes Dirigat darauf an, dass man diesen einen, neugedeuteten Ton in einer Sinfonie hören kann. Sie montieren die Klassiker auseinander wie einen Formel1-Wagen und halten jede blinkende Schraube stolz in die Luft - dass es sich dabei um ein Auto handelt, ist am Ende nicht mehr zu erkennen.
Bei Ihnen war das anders. Ein Alleskönner wie Sie ist nicht nur ein Alleskönner, sondern auch ein Allesverbinder: Sie haben Oper mit Operetten, Sinfonien mit Gesang, und Arien mit Musik gemacht, Sie haben Rhythmen aus dem Populären in die Klassik und Klassisches in das Populäre geholt.
Wo ist dieser Klang, dieser Smola-Sound geblieben? Heute sitze ich in Konzerten, in denen sehr oft sehr gefeierte Dirigenten dirigieren. Und ich staune. Darüber, dass sie keinen Mut mehr haben, einfach nur Musik zu machen. Dass sie der Partitur nicht mehr vertrauen. Dass sie sich und ihre Entdeckungen über Mozart und Brahms wichtiger Nehmen als Mozart und Brahms selbst. Sie, Herr Smola, haben uns gelehrt, dass Musik eine Kunst ist, die für sich spricht.
Heute atmet die Klassik schwerer, komplizierter, verkrampfter, verkopfter. Viele Dirigenten trauen sich keine Bögen mehr zu. Sie zerstückeln und filetieren die Musik. Und vielleicht ist das unserer Zeit geschuldet. Der sogenannten Postmoderne, in der wir den Glauben daran verloren haben, dass es so etwas wie eine übergeordnete Form, eine universelle Sprache gibt.
Sie haben diesen Glauben, Emmerich Smola. Sie haben die größte Sehnsucht der Menschen gestillt: die Sehnsucht nach Schönheit, aber auch nach Hässlichkeit, die ebenso in der Form der Klassik aufgehoben ist, die Sehnsucht nach Universalismus. Eine Sehnsucht, von der wir heute tun, als würde es sie nicht geben. Weil wir so cool sind! Eine Sehnsucht, die wir verdrängen. Weil alles logisch, klar, rational und verdinglicht sein muss. Dabei sehnen wir uns noch immer nach Sinnlichkeit, nach Ehrlichkeit, nach Wahrhaftigkeit - und wenn wir sie finden wollen, bleibt uns oft nichts anderes, als an die alten Schallplatten zu gehen, um dem Smola-Sound zu lauschen. Wir, die Jungen und Ihr, die Alten.
Lieber Emmerich Smola, Sie haben schlicht und einfach Musik gemacht. Schnörkellos und klar. Und: Sie haben gemacht, was heute undenkbar geworden ist. Sie haben sich in den Dienst der Musik gestellt. Sie waren kein Selbstdarsteller. Sie haben Ihre Musiker, Ihre Sänger, Sie haben Mozart, Beethoven und Léhar dargestellt. Sie waren kein Medien-Maestro, sondern ein Musik-Meister!
Uns trennen 42 Jahre. Und es ist merkwürdig: Meine „Generation Golf” scheint sich unwohl in ihrer eigenen Zeit zu fühlen. Wir sind mit Ihrer Musik aufgewachsen. Mit ihrem Anstand. Mit Ihrer Natürlichkeit. Wo ist all das geblieben? Ist all das nur noch Erinnerung? Und wie kommt es, dass ein Mensch wie ich dieser „guten alten Zeit” nun nachtrauert?
Wenn ich den Fernseher anschalte und vergeblich nach klassischer Musik suche, finde ich sie höchstens versteckt im Spätabendprogramm, oder in Formaten wie dem „Echo Klassik” oder der „Großen Nachtmusik”. Das sind fürchterliche Versuche, sich ans Publikum anzubiedern. Da sind Clowns und Halbwissende, die mit vorgeschriebenen Worten die Schönheit der Musik beschreien. Denen man aber anmerkt, dass sie ihrem Publikum nicht mehr vertrauen. Dass sie meinen, die Klassik besser „verkaufen” zu können als die Klassik sich selbst verkaufen kann. Herr Smola, Sie haben die Klassik stets als Selbstverständlichkeit verstanden. Und so haben Sie die Musik auch interpretiert und vermittelt. Diese Selbstverständlichkeit ist, was ich vermisse. Diese Selbstverständlichkeit ist eine Sehnsucht. Eine Musik aus vergangenen Zeiten. Eine Sehnsucht, die Sie noch immer stillen.
Hoch verehrter Emmerich Smola. Warum ich hier stehe? Vielleicht deshalb, um Ihnen folgendes zu sagen. Ich danke Ihnen dafür, dass Sie mich und viele tausend andere Menschen zu dem gemacht haben, was wir sind. Und ich verspreche Ihnen: Auch wenn die Welt heute vielleicht ein wenig anders tickt, wenn es keine „Yps”-Radios mehr gibt, die Rundfunksinfonieorchester auf Sparkurs sind, wenn die Klassik von Geschäftsleuten erobert wird, wenn Selbstdarsteller und Beethoven-Zerstückeler den Ton anzugeben scheinen. Ich und meine Generation werden es uns nicht leisten, nostalgisch zu sein und zu sagen, dass früher alles besser war. Vielleicht stehe ich hier, um Ihnen zu sagen, dass wir viel - sehr viel - von Ihnen gelernt haben und noch immer von Ihnen lernen. Und dass wir dafür kämpfen werden, mit jedem Wort das wir schreiben, mit jedem Ton, den wir spielen, dass die klassische Musik das bleibt, was sie bei Ihnen war: Ein Massenmedium. Musik für die Menschen. Echt und wahrhaftig.
Axel Brüggemann